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Schulschwierigkeiten durch die sensorische Brille betrachtet - Teil 2: Aufgabenverständnis, Aufmerksamkeit & Schreiben – was der Gleichgewichtssinn damit zu tun hat

Aktualisiert: vor 5 Tagen

Wer ein unaufmerksames Kind nur als unwillig erlebt, übersieht oft die eigentlichen Ursachen. Aus Sicht der Sensorischen Integration (SI) hängen Aufgabenverständnis, Aufmerksamkeitssteuerung und Schreiben eng mit sensorisch-integrativen Leistungen, v.a. des Gleichgewichtssinnes zusammen.



Warum Aufmerksamkeit kein „Kopfproblem“ allein ist


Der Gleichgewichtssinn (Vestibularsystem) stabilisiert nicht nur die Köerperhaltung, steuert automatische Augenbewegungen und die Balance, sondern seine Signale modulieren auch das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem (RAS) im Hirnstamm – wie auch in neurowissenschaftlichen Journalen beschrieben ist (DeCicco 2018). Damit beeinflusst vestibulärer Input unseren Wachheitszustand und die Orientierungsreaktion - und somit die Basis für fokussierte Aufmerksamkeit. Wenn die vestibuläre Verarbeitung schwach ist, pendeln Kinder zwischen „zappelig/überdreht“ und „schnell erschöpft“ – beide Zustände sind für schulisches Arbeiten ungünstig.



Bilaterale Integration: Die „Brücke“ zwischen rechter und linker Körper-/Gehirnhälfte


Um Aufgaben länger geordnet zu bearbeiten, muss das Gehirn Informationen beider Körperseiten effizient integrieren. Das Vestibularsystem liefert die Grundlage für den Austausch von Informationen aus beiden Körperseiten - nämlich bereits auf der Ebene der Vestibulariskerne im Hirnstamm. Integriert das Gehirn effektiv Informationen aus beiden Körperseiten, so sehen wir das an einer guten bilateralen Koordination, z.B. stabilisieren Kinder mit guter bilateraler Integration spontan und effektiv das Blatt mit der einen Hand, während sie mit der anderen schreiben. Sie können Linien quer über das Blat ziehen ohne es zu drehen. Beim Lesen können ihre Augen fließende Sakkaden von links nach rechts machen und dabei die Körpermitte ohne Zögern überkreuzen. Nicht so bei Kindern mit Schwächen der bilateralen Integration: im Vorschulalter fallen ihnen Linienkreuzungen schwer, später Diagonalen (X, Dreieck). Sie drehen häufig das Papier, damit sie eine Linie nicht über die Körpermitte ziehen brauchen – ein Hinweis auf unzureichendes Bewusstsein für den kontralateralen Raum.


In Ayres' faktorenanalytischen Studien und ihren Replikationen (Mulligan 1998 und Mailloux et al. 2011) wurden Zusammenhänge zwischen diesen Verhaltensweisen und vestibulärer Unterempfindlichkeit (im postrotatorischen Nystagmustest), Schwächen der Haltungskontrolle und Okulomotorik (in entsprechenden SIPT- bzw. EASI-Tests und Schwächen im Test der bilateralen Koordination (des SIPT bzw. EASI) gefunden. Dieses Muster wird als vestibulär basierte bilaterale Integrationsstörung (VBIS) oder vestibuläre postural-okulär-bilaterale Integrationsstörung bezeichnet.



Aufgabenverständnis

Der vestibuläre Sinn kann auf mehrfache Weise mit (scheinbaren) Problemen des Aufgabenverständnisses zu tun haben:

Ayres identifizierte den Gleichgewichtssinn zusammen mit dem Hören als die sensorischen Grundlagen des Spracherwerbs. Das Bindeglied ist dabei höchstwahrscheinlich die Aufmerksamkeit. Werden Aufgaben nur verbal mitgeteilt, kann das also einerseits an einem immer noch verzögerten Sprachverständnis oder an mangelnder Aufmerksamkeit für die Anweisung liegen.

Doch auch visuelle Anleitungen fallen Kindern mit VBIS nicht unbedingt leicht: da sie mit räumlicher Orientierung Schwierigkeiten haben, können sie Anleitungen oft nicht folgen.



Lesen, Rechnen, Schreiben: sensorisch-integrative Grundlagen


Lesen verlangt stabile Blickführung, die mit der Haltung und Nackenkontrolle zusammenhängt, und gute räumliche Orientierung, die auch von Funktionen des Gleichgewichtssystems abhängen. Außerdem verschiedene visuelle Perzeptionsleistungen. Vestibuläre Unterempfindlichkeit (Isaac et al, 2017) gehen mit

  • mangelndem stabilen Blickfeld,

  • mangelndem vestiblo-okulärem Reflex (VOR)

  • mangelnder Haltungskontrolle

  • schwacher bilateraler Koordination

  • Richtungslabilität und räumliche Schwächen

einher und können das Lesen beeinträchtigen. Studien zeigen schlechtere Lese-Sehschärfe bei Kindern mit vestibulärer Hypofunktion und Verbesserungen der Lesegeschwindigkeit nach vestibulär-kognitivem Training. Übersichtsarbeiten verknüpfen vestibuläre Defizite mit kognitiver/okulomotorischer Entwicklung.


Mathematik baut auf Raumerfahrung und räumlicher Orientierung  (oben/unten, links/rechts, Nähe/Distanz) auf. Das Vestibularsystem hilft, visuelle Eigenbewegung von Objektbewegung zu unterscheiden und räumliche Referenzen zu stabilisieren – Schwierigkeiten hier können sich in Geometrie, Mengenorganisation und Stellenwertverständnis niederschlagen (Wiener-Vacher et al, 2013)


Schreiben benötigt exakte taktile Informationen, somatosensorische Differenzierung und Praxie (Bewegungsplanung). Ist die innere „Landkarte“ des Körpers undifferenziert, wie dies bei der von Ayres identifizierten Somatodyspraxie aufgrund unexakter taktiler Informationen vom Körper der Fall ist, gelingen Start-/Stopp-Sequenzen, Formübergänge und Druckdosierung nicht automatisch: Die Schrift wird verkrampft oder hastig, häufig mit ständigen Neuansätzen. Reviews zum Schreibenlernen fassen diese neuromotorischen Komponenten – inkl. bilateraler Integration und motorischer Planung – zusammen (Lee et al. 2022).



Von „Lernstörung“ bis „Aufmerksamkeitsproblem“ – was die Evidenz zeigt


Bereits A. Jean Ayres (1969) beschrieb bei schulisch leistungsschwachen Kindern wiederkehrende Muster sensorischer Integrationsdefizite:

  1. auditiv-sprachlich-sequenziell

  2. postural-bilateral.

Diese Faktoren korrelierten mit Lernproblemen – eine frühe, bis heute starke Hypothese zur sensorischen Basis schulischer Leistungen.


Eine vierjährige Längsschnittstudie (Parham, 1998) zeigte, dass die Ergebnisse sensorisch-integrativer Tests gleichzeitig und prädiktiv mit Schulleistungen zusammenhängen – auch unter Kontrolle anderer Variablen.


Aktuelle Arbeiten vertiefen die Zusammenhänge:

  • Bei Schulkindern/Jugendlichen mit Autismus sagen sensorische Merkmale (v. a. Interaktion aus Hyperreaktivität und geringer Vermeidungs-/Selbstregulation) Schulkompetenzen signifikant voraus – stärker als IQ (Butera et al., 2020)

  • Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung (Dyslexie) zeigen häufig schwächere VOR-Funktion und Balanceleistungen; vestibuläre Interventionen/Trainings können Lesegeschwindigkeit verbessern (Ölcek et al, 2023).

  • Bei Kindern mit spezifischen Lernstörungen finden sich messbare vestibuläre Funktionsauffälligkeiten – ein weiteres Indiz für die sensorische Mitbeteiligung (Demir et al, 2023).

    In Schulumgebungen beeinträchtigen sensorische Auffälligkeiten die Aufmerksamkeit und das Lernengagement; Maßnahmen, die die sensorische Reizlast reduzieren, können die Leistungen positiv beeinflussen (van der Wurff, 2021).

  • Auffälligkeiten der sensorischen Reaktivität gehen mit schwächerer schulischer Leistung in inklusiven Settings einher (Marcham et al., 2024).



Woran erkennen wir mögliche sensorische Grundlagen von Schulproblemen im Alltag

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