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Kinder durch die SI-Brille neu verstehen: Die Bedeutung der Nahsinne für den schulischen Erfolg

Aktualisiert: 10. Okt.

Sehen und Hören sind nicht die einzigen Sinne, die in der Schule wichtig sind. Damit Kinder erfolgreich lernen und teilnehmen können, ist die gute Funktion der Nahsinne – des Gleichgewichtssinnes (vestibulär), des Berührungssinnes (taktil) und des Kraft- und Bewegungssinnes (propriozeptiv) eine Voraussetzung. Sie sind die Bausteine der kindlichen Entwicklung hin zur Schulreife.


Dr. Jean Ayres hat in ihrer Theorie der Sensorischen Integration bereits vor 50 Jahren aufgezeigt, welche wichtige Rolle die Nahsinne spielen. Diese Sinne arbeiten meist unbewusst und automatisch im Hintergrund. Sie bestimmen unsere Emotionen, unser Verhalten und unser Lernen (Ayres 1972). Sie legen die notwendigen Grundlagen – von Wachheit, Regulation und Aufmerksamkeit über motorische Kontrolle bis zum Integrieren komplexer Informationen zu einem kohärenten Ganzen.



Die Rolle der Nahsinne im Schulalltag


Sind die Nahsinne für Babys und Kleinkinder noch die wichtigsten Sinne, über die sie ihren Körper und die Welt um sich erfahren, treten im Schulalter die Fernsinne Sehen und Hören mehr in den Vordergrund. Allerdings bauen sie auf den Grundlagen auf, die die Nahsinne bereitstellen. Sie sind maßgeblich dafür verantwortlich, wie motiviert und aufmerksam ein Kind ist. Auch wie leicht es sich tut, schreiben zu lernen, ob es seine Dinge in Ordnung halten kann und welche Freunde und Sportarten es bevorzugen wird – und für noch viel mehr.


Kinder, die "irgendwie anders" sind, hören oft: „Du musst dich nur mehr bemühen, dann geht es schon.“ Doch in Wahrheit strengen sich diese Kinder oft mehr an als andere – und trotzdem stoßen sie an Grenzen.


Ein Blick durch die sensorische Brille zeigt: Viele schulischen Probleme haben ihre Wurzeln in der Art und Weise, wie Kinder Sinnesreize verarbeiten, integrieren und nutzen. Schauen wir uns die einzelnen Sinne im Detail an.


Die SI-Brille, ein Symbol für die sensorische Perspektive
Die SI-Brille, ein Symbol für die sensorische Perspektive


Der Gleichgewichtssinn – Basis für Aufmerksamkeit, Haltung, Koordination und Raumorientierung


Der vestibuläre Sinn entwickelt sich bereits ganz früh im Mutterleib. Er legt durch seine Verknüpfungen die Grundlage für die Leistungsfähigkeit des Gehirns: das Neuronennetzwerk, verknüpft durch unzählige Synapsen.


Funktionen, für die unser Gehirn Gleichgewichtsinformationen braucht:

  • Wachheit: Das aufsteigende retikuläre Aktivierungssystem (RAS) wird durch vestibuläre Signale aktiviert – und damit auch Aufmerksamkeit.

  • Haltung: Aufrichtung gegen die Schwerkraft, Balance und Koordination – insbesondere das Zusammenspiel von beiden Körperseiten.

  • Räumliche Orientierung und räumliches Vorstellungsvermögen.

  • Dynamische Bewegungsplanung: Immer dann, wenn Tempo und Bewegung im Raum mitspielen, z.B. im Straßenverkehr oder bei Ballspielen.


Während der Fokus im Zusammenhang mit Schule oft auf dem Stillsitzen und der Aufmerksamkeit liegt, sind alle der oben genannten Funktionen ebenso wichtig für schulischen Erfolg und Lernen.


Zu welchen Problemen in der Schule führen vestibuläre Störungen?

Was sind die sichtbaren Folgen, wenn der Gleichgewichtssinn nicht gut arbeitet und das Gehirn nicht ausreichend genaue, klare vestibuläre Informationen erhält?


Das Kind:

  • schläft im Unterricht ein.

  • kann nicht für längere Zeit aufrecht sitzen, sondern hängt am Stuhl, liegt am Tisch oder stützt seinen Kopf auf die Hände.

  • fällt vom Stuhl.

  • ist unruhig, kann nicht sitzen bleiben, muss sich ständig bewegen, kippelt mit dem Stuhl.

  • dreht das Blatt, statt über die Körpermitte zu arbeiten.

  • tut sich schwer, Linien zu kreuzen, v.a. Diagonalen.

  • hat keine gefestigte Schreibhand – ist ein Beidhänder (und das ist nicht gut! Lies mehr dazu im Blogpost zur Beidhändigkeit!) und wechselt den Stift zwischen den Händen.

  • kommt mit dem Zeilenanfang durcheinander, schreibt in Spiegelschrift.

  • hat im Turnen Schwierigkeiten mit Fangenspielen, Ballspielen, Jonglieren.


Die obigen Zeichen müssen nicht alle bei ein und demselben Kind vorhanden sein. Die Auffälligkeiten können in unterschiedlichen Kombinationen auftreten. Jedenfalls wird Schule ohne ein gut funktionierendes Gleichgewichtssystem zu einer enormen Anstrengung im Vergleich zu dem, was sie normalerweise sein sollte.



Der Berührungssinn – Grundlage für Regulation, Bewegungsplanung und Fein-/Graphomotorik


Wenn du dich schon etwas mit Sensorischer Integration beschäftigt hast, weißt du, dass der Berührungssinn aus zwei Anteilen besteht: einem Schutzsystem und einem erkennenden oder Perzeptionssystem.


Ein meist völlig übersehener, aber oft folgenreicher Einfluss unseres taktilen Systems ist, dass es unser Gehirn in einen Alarmzustand versetzen kann. Das geschieht, wenn es über die Haut viele unkontrollierbare, diffuse, nicht interpretierbare Reize bekommt. Das können unangenehme Kleidungsmaterialien sein, ein zappeliger Sitznachbar oder andere Kinder, die hinter meinem Stuhl vorbeigehen müssen und uns dabei ständig überraschend und flüchtig berühren. Das ist die Rolle des Schutzsystems, das uns ja vor möglichen Gefahren warnen soll.


Funktionen, für die unser Gehirn taktile Informationen braucht:


  • Regulation des Erregungsniveaus: Nicht in einen Alarmzustand kommen, solange keine echte Gefahr besteht.

  • Spüren, ob und wo man berührt wurde.

  • Ertasten und erkennen: Auch ohne hinzusehen.

  • Entwicklung einer unbewussten, inneren Landkarte unseres Körpers (Körperschema), die wie beim Navi im Auto die Grundlage ist für unsere.

  • Bewegungsplanung: Neuartige Bewegungen rasch und automatisch planen und ausführen zu können.


Zu welchen Problemen in der Schule führen taktile Störungen?

Ich möchte drei Beispiele beschreiben, wie eine schlechte Funktion des taktilen Systems zu Problemen in der Schule führen kann:


  1. Das Kind ist ständig auf der Hut und in einem Zustand angespannter Wachsamkeit. Dadurch ist es sehr ablenkbar und erschrickt leicht. Statt sich auf Buchstaben und Inhalte zu konzentrieren, ist das Gehirn mit der Regulierung von Reizen beschäftigt. Schreiben wird zu einer doppelten Belastung.


  2. Es kann schon mal vorkommen, dass es plötzlich zuschlägt – ohne einen für die Außenwelt ersichtlichen Grund. Dann wird es als aggressiv eingestuft. Dabei hat eine weitere flüchtige oder freundschaftliche Berührung das "Fass zum Überlaufen" gebracht, nachdem das Kind schon viele Stunden lang die verschiedensten Berührungsreize toleriert hat – von Kleidung, Haaren, Mitschüler:innen, Erwachsenen, Arbeitsmaterial wie Klebstoff. Obwohl von außen unsichtbar, ist währenddessen der Erregungszustand des Gehirns immer höher gestiegen, bis das Gehirn schließlich keine Kapazität mehr hatte, die Überlebensreaktion zu unterdrücken.


  3. Dieses Kind spürt die Dinge, die es berührt, nicht so genau. Vielleicht nimmt es viele Dinge daher noch in den Mund. Jedenfalls muss es Dinge sehen können, um sie zu erkennen. Zum Beispiel, wenn es etwas aus seiner Schultasche braucht. Statt wie andere Kinder einfach hineinzulangen und das gewünschte Objekt zu ertasten, muss dieses Kind die ganze Schultasche auf dem Tisch auskippen. Das Chaos ist vorprogrammiert!


Natürlich spürt es auch den Stift oder die Füllfeder nicht sehr gut zwischen seinen Fingern. Es mangelt ihm an "Fingerspitzengefühl". Die Stifthaltung wird grob und unphysiologisch sein, dadurch kann es den Stift auch nicht sehr geschickt auf dem Papier bewegen.


Wir haben oben gesagt, dass klare taktile Reize notwendig sind, um ein gutes Körperschema zu entwickeln. Diese Landkarte brauchen wir, um neuartige Bewegungen zu planen – wie beim Schreibenlernen. Buchstaben zu formen und Bewegungsabfolgen zu automatisieren braucht eine gute Bewegungsplanung. Dafür sind wiederum eine gute taktile Perzeption, aber auch propriozeptive und vestibuläre Verarbeitung Voraussetzungen.


Fehlt diese Grundlage, sehen wir typische Muster:


  • Buchstaben werden immer wieder neu „erfunden“.

  • Bewegungsabfolgen sind unsicher, langsam (weil das Kind viel mehr mitdenken muss) und nicht flüssig.

  • Buchstaben werden zwar beim Lesen erkannt, das Kind kann sie aber nicht selbst motorisch umsetzen, also schreiben.


Die Folge ist also nicht mangelndes Wissen, sondern fehlende Automatisierung des Schreibens. Diese Kinder müssen oft noch in der 3. Klasse darüber nachdenken, wo sie bei einem Buchstaben starten und wie sie ihn aufbauen. Sie müssen härter arbeiten als ihre Mitschüler:innen und ermüden verständlicherweise schneller. Zugleich bekommen sie weniger erledigt, weil sie dadurch langsam sind, und erleben ständig Frustrationen und Unverständnis von den Erwachsenen.



Fazit: Lernen braucht Nahsinne


Unsere Nahsinne schaffen ein Fundament an Fähigkeiten, das wir brauchen, um die Leistungen, die in der Schule bzgl. emotionaler Regulation, Verhaltenskontrolle und Lernen erwartet werden, mit Leichtigkeit und Freude bringen zu können.


Ob Aufmerksamkeit, Schreibenlernen, soziale Integration oder Belastbarkeit – viele schulische Schwierigkeiten lassen sich nicht allein mit „mehr Üben“ lösen. Der Blick durch die sensorische Brille zeigt, wie tiefgreifend der Einfluss unserer Sinne auf den Erfolg in der Schule ist.


Wenn wir diese Zusammenhänge erkennen, können wir Kinder gezielt unterstützen: mit sensorischen Pausen, Anpassungen in der Vorgabe und Menge des Lernstoffs und einem verständnisvollen, unterstützenden Umgang mit dem Kind. Die Erwachsenen rund um das Kind müssen sich klar darüber sein, dass dieses Kind nicht anders kann, obwohl es das gerne wollte.


Deine Perspektive

Versuchst du, schulische Probleme mit Üben zu beheben? Wenn nein: wann hast du damit aufgehört? Wo setzt du heute an? Teile deine Überlegungen und Erfahrungen in den Kommentaren!

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Video-Podcast

👉 Mehr dazu kannst du dir in meinem Podcast SINN-VOLL – Leben mit allen Sinnen anhören, insbesondere der dreiteiligen Serie „Was Eltern wissen sollten: Schulschwierigkeiten und sensorische Integration“.



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BONUS FÜR ALLE


Und hier als Bonus noch eine Langzeitstudie, die ganz konkret den Zusammenhang zwischen sensorisch-integrativen Leistungen und Schulleistungen untersucht hat:


Parham D. (1998) The Relationship of Sensory Integrative Development to Achievement in Elementary Students: Four-Year Longitudinal Patterns. OTJR Occupation Participation and Health 18(3):105-127 DOI:10.1177/153944929801800304



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BONUS FÜR MITGLIEDER DES ASI-FREUNDESKREISES

Exklusiv für Mitglieder des ASI-Freundeskreises: Im Mitgliederbereich findest du die ganze Studie auf Deutsch mit einer Kurzbeschreibung der wichtigsten Ergebnisse!


Pädagog:innen aufgepasst! Welchen Sinn setzt du mit deinen Kinder vor allem ein?

  • Sehen

  • Hören

  • Spüren

  • Gleichgewicht


 
 
 

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